Kürzlich brachte mich das Ende einer Reise zum Hamburger Hauptbahnhof. Es war fast Tagesschau-Zeit, ziemlich dunkel und ein grauer Nieselregen legte sich bei Minustemperaturen auf die Stadt. Gegenüber der Station wartete ich auf meinen Bus, als ein bärtiger Mann – um die sechzig Jahre – mit zerschlissener Jacke, zwei ungleichen Schuhen und einer Dose in der Hand die Leute um etwas Kleingeld bat. Nach mehreren erfolglosen Versuchen brach er sein Vorhaben ab, stöhnte und ließ sich in der klirrenden Kälte auf die Bank der Haltestelle fallen. Es dauerte nur zwei Minuten, dann war er eingeschlafen, die Dose hielt er noch immer umklammert.
Ich warf ein paar Münzen hinein und versuchte meine Hände warm zu bekommen, bevor ich mein Handy herausholte, um ein Foto zu machen. Von ihm, wie er da eingesunken und schwer atmend dem Frost harrte. Warum ein Foto? Weil das die Seiten einer Stadt sind, die ungerne gezeigt werden, “The Waste Land” sozusagen. Das Ergebnis der urbanen Strategie einer alternativlosen Vertreibung. Ich denke, die Politik sollte beide Ergebnisse ihrer Handlung sehen; die Kamera – das Auge der Welt, und so weiter.
Aus Grauzone wird Strafzone
Hintergrund ist der Versuch, Cybermobbing unter Schülern einzudämmen
Zwar erkennt man den Mann auf dem Foto nicht – das Gesicht liegt im Schatten verborgen – aber ich habe es nicht veröffentlicht. Denn die klassische Straßenfotografie belegt in Deutschland eine juristische Grauzone und macht – zumindest für den Laien – die Einschätzung nicht immer leicht, wen und was man nun eigentlich fotografieren darf, oder eben nicht.

Bislang war es zwar gestattet, nach Belieben Bilder zu schießen, die Aufnahmen durften aber nur unter besonderen Bedingungen öffentlich gemacht werden. Etwa dann, wenn die portraitierte Person zuvor ihr explizites Einverständnis gegeben hat. Das Recht am eigenen Bild war wiederum eingeschränkt, wenn die gezeigte Person lediglich als „Beiwerk neben einer Landschaft oder sonstigen Örtlichkeit” erschien oder Teil einer großen Menschenmasse war. Seit Anfang des Jahres hat sich hier aber einiges geändert – aber nicht zum Guten. Es wurden nämlich einige Paragraphen eingeführt, die bedenkenlosen Knipsern das Leben schwer machen.
Kluft zwischen Idee und Umsetzung
Wer das Netz kennt, weiß, dass sich ein solches Wundmal sehr lange Zeit halten kann
Hintergrund des neuen Gesetzestextes ist der Versuch, Cybermobbing unter Schülern einzudämmen, bei denen immer öfter peinliche Situationen oder Prügeleien gefilmt und dann in sozialen Netzwerken verbreitet werden. Die Betroffenen sind bloßgestellt und wer das Netz kennt, weiß, dass sich ein solches Wundmal sehr lange Zeit halten kann. Der Vorstoß klingt also im Ansatz erst einmal beachtens- und lobenswert – in der Umsetzung wurde allerdings arg geschlampt.
Der diesbezügliche Paragraph ist so allgemein gehalten, dass er jeden Nutzer mit Kamera in der Tasche betreffen kann: „Mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer (…) eine Bildaufnahme, die die Hilflosigkeit einer anderen Person zur Schau stellt, unbefugt herstellt oder überträgt und dadurch den höchstpersönlichen Lebensbereich der abgebildeten Person verletzt.”
Per “Gefällt mir” in den Knast
Der Paragraph gilt auch für jeden gedrückten Like-Button auf Facebook
Neben dem erhöhten Strafmaß (das von einem auf zwei Jahre heraufgesetzt wurde), gibt es nun den Begriff der „Hilflosigkeit”, den die deutsche Rechtsprechung erst einmal definieren und interpretieren muss. Wer ist hilflos? Eine alte Frau, die die Straße überqueren möchte? Das Kind, das die Keksdose nicht erreicht? Der betrunken-tapsende Kumpel auf der Tanzfläche? Neu ist außerdem, dass die strafbare Handlung schon beim Drücken des Auslösers passiert – nicht erst bei der Verbreitung des Fotos. Doch der Arm des Gesetzes reicht noch weiter. Da sich auch jeder illegal verhält, der derlei Bilder „überträgt”, gilt der Paragraph auch für jeden gedrückten Like-Button auf Facebook: „Ein Foto eines gemobbten Mädchens zu teilen kann demnach genauso strafbar sein, wie das Bild der sich übergebenden Kollegin auf der Privatfeier”, warnt die Anwaltskanzlei Schrödter. Zwei Jahre Knast für ein „Gefällt mir” – das ist schon was.

Das neue Gesetz gilt seit dem 21.01.2015 und berührt – wie man sieht – viele Bereiche des digitalen Lebens. In Zeiten von Selfies, Fail-Compilations und bebilderten Suff-Protokollen wurde damit das kriminelle Potenzial radikal potenziert. Das Gesetz wird nach den Plänen in erster Linie passiv angewendet, das bedeutet, dass Behörden erst aktiv werden, wenn ein besonderes öffentliches Interesse gegeben ist. Hingegen hat jeder Betroffene die Möglichkeit, sofort von sich aus den Anwalt einzuschalten. Es war das zwar vorher schon, nun ist es aber doppelt ratsam, genau abzuwägen, ob, von wem und in welcher Situation man ein Foto von einer Person schießt, und es anschließend online stellt oder in Netzwerken teilt. Auch das Bild des eingangs erwähnten Obdachlosen, Zeugnis einer gegenwärtigen Stadtentwicklung, werde ich also löschen.